Einsam trotz Beziehung

„Ich verdiene keinen anderen Mann,“ das ist der Satz, der Verena* ständig durch den Kopf geht. Morgens beim Aufwachen und abends wenn sie allein in ihrem Bett liegt und lange nicht einschlafen kann.

Verena ist seit über 25 Jahren in einer Beziehung mit Peter.

„Wir leben schon lange nebeneinander her, schlafen in getrennten Zimmern, unternehmen nichts zusammen und haben seit Jahren keinen Sex mehr,“ erzählt Verena weiter.

„Dabei sind wir sehr freundlich zueinander, streiten kaum, reden aber auch kaum. Erst durch den Lockdown und die dadurch fehlenden Aussenkontakte ist mir bewusst gewusst geworden, wie einsam ich bin, trotz Beziehung.“

Einsam trotz Beziehung

Verena kommt allein zu mir. Auf meine Frage, ob Peter dabei sein möchte, antwortet sie: „Ich glaube nicht, aber ich habe ihm auch nichts von unserem Termin erzählt, wir reden nicht viel. Ich bin wegen mir hier. Seit Wochen geistert dieser eine Satz durch meine Gedanken: Ich verdiene keinen anderen Mann. Ich möchte diesen Satz verstehen. Bleibe ich bei Peter, weil ich nicht allein sein kann? Und weil ich denke, eine einsame Beziehung zu verdienen? Das ist doch verrückt!“

Wenn mich nur ein Mensch aus einer Beziehung für eine Beratung anfragt, erzähle ich meist davon, dass Paartherapie viel effektiver ist, wenn beide kommen. Aber in Verena’s Fall habe ich das Gefühl, es ist sinnvoll zumindest erstmal mit ihr allein zu arbeiten. Wir machen uns gemeinsam auf die Suche nach den Ursachen dieses Satzes.

Systemische Verstrickung

Meine Beratungen beginnen immer mit einem systemischen Fragebogen. Darin geht es um die Beziehung der Eltern, aber auch um Beziehungsmuster, Außenbeziehungen und andere Details. Eine Frage ist dabei, in der nach Familientragödien oder früh verstorbenen Familienmitglieder gefragt wird.

Verena hat eine Tante, die sich mit 18 Jahren das Leben genommen hat. Es ist die Schwester ihrer Mutter, von der sie kaum etwas weiß. Bei Suizid frage ich meist genauer nach. Verena weiß jedoch noch nicht einmal den Namen. 

Wir stellen ihr Familiensystem mit Figuren auf und als die stellvertretende Figur dieser Tante dazu kommt, fängt Verena plötzlich an zu weinen. Auf Nachfrage hat sie keine Ahnung was sie so traurig macht. Aber sie kann sich kaum beruhigen. Wir unterbrechen die Arbeit und ich bitte sie, wenigstens den Namen heraus zu finden. Sie scheint wichtig zu sein, sonst wäre Verena nicht so berührt von einer stellvertretenden Holzfigur.

Suizid 

In der nächsten Sitzung ist Verena aufgeregt. Sie erzählt davon, dass sie tagelang alle Unterlagen ihrer Mutter durchwühlt hat. Nach deren Tod hatte sie einfach alles in Kisten gepackt und irgendwo im Keller gelagert. Sie fand in den Unterlagen schließlich die Todesanzeige ihrer Tante: Ihr Name war Veronika, sie wurde 18 Jahre, 4 Monate und 7 Tage alt.

Ansonsten gibt es keine weiteren Hinweise auf das Leben ihrer Tante. Deshalb war Verena  in dem Dorf, in dem ihre Mutter aufgewachsen ist und dort erfuhr sie schließlich von einer ehemaligen Nachbarin die ganze Geschichte.

Ihre Tante hatte sich mit 18 Jahren im Wald erhängt. Sie wurde von einer Spaziergängerin, die mit ihren Hunden unterwegs war, gefunden. Später ging das Gerücht um, dass sie schwanger gewesen sei. Genau wusste es die Nachbarin aber nicht. Aber es musste einen Grund geben, dass die ganze Familie schwieg und nie wieder über Veronika gesprochen wurde. 

„Die hätte doch keinen anderen Mann mehr abgekriegt“ sagte die Nachbarin zum Abschied.

Verena weint lange, auch ich bin berührt von der Tragik dieser Geschichte. Es ist der Satz dieser Tante, der Verena seit Wochen quält „Ich verdiene keinen anderen Mann“. Doch was heißt das jetzt für Verena? Nach so vielen Jahren? Sie kennt ihre Tante ja noch nicht einmal, hat sie nie gesehen.

Einsam trotz Beziehung – wieder Kontakt aufnehmen

„Ich habe ein Bild von Veronika gefunden. Das steht jetzt auf meinem Schreibtisch. Sie sieht fröhlich aus. Für das mögliche Kind habe ich einen Stein neben das Bild gelegt. Worüber ich mich allerdings wirklich freue ist, dass seitdem dieser Satz aus meinen Gedanken verschwunden ist.“

Verena hat mehr verstanden über sich selbst und ihr Familiensystem. Sie hat die Verbindung zu ihrer Familie, insbesondere zu ihrer Tante gefühlt. Sie hat verstanden, dass sie trotz der vielen Weiterbildungs- und Selbstoptimierungskurse eigentlich immer Angst hatte, sich wirklich zu zeigen mit allem Schmerz und allem Leben, das in ihr ist. Ein Verhalten, das schon lange in ihrer Familie von Generation zu Generation weiter „vererbt“ wird.

So ist Verena einsam geworden hinter einer Maske aus Anpassung und Selbstschutz. Sie trägt diese Maske auch in ihrer Beziehung aus Angst, ihr Partner könnte etwas von ihr entdecken, das schlecht oder verboten ist. So wie ihre Tante mit dem ähnlichen Namen, die sich aus lauter Angst vor den Urteilen der anderen das Leben nahm. 

Dieser Angst will Verena sich nun stellen. Dazu braucht sie Mut und Lust auf Veränderung, sonst bleibt sie einsam, nicht nur in ihrer Beziehung zu Peter. Sie möchte ihr Verhaltensmuster in Beziehungen verbessern.

Verhaltensmuster in Beziehungen

Es gibt insgesamt nur vier Verhaltensmuster in Beziehungen und Angst ist immer die Ursache, für diese drei:

  • Dominanz
  • Unterwerfung
  • Rückzug

Verena zum Beispiel bevorzugt den Rückzug und manchmal auch die Unterwerfung. Ihr Partner ist meistens dominant. Trotzdem sind sie sich ähnlicher als sie denken, denn beide befinden sich in dem Gefühl der Angst. Sie nutzen lediglich unterschiedliche Strategien, um die Angst nicht zu spüren.

Beziehung auf Augenhöhe

Für welche Strategie gegen die Angst sich jemand entscheidet, ist natürlich keine bewusste Entscheidung, sondern sie ist schon in der frühen Kindheit erlernt. Oder sie steckt, wie bei Verena, schon im Familiensystem. 

Um aus diesem Muster auszusteigen, hilft das vierte mögliche Verhaltensmuster in Beziehungen.

Lieben

Lieben ist die garantierte Hilfe bei Dominanz, Unterwerfung und Rückzug und somit auch gegen die daraus resultierende Einsamkeit und Langeweile. 

Aber Achtung, hier ist nicht die romantische Liebe gemeint, die einfach so vom Himmel fällt wie beim VERlieben. Lieben ist ein Verb also ein Tuwort mit Betonung auf „Tu“. Mit der Entscheidung zu lieben entsteht Handlungsfähigkeit, Kooperation und Selbstwirksamkeit. Die Frage ist jetzt natürlich, wie geht das überhaupt, aktiv zu lieben?

Die 4 Punkte der Balance

Jetzt kommen die 4 Punkte der Balance des Paar- und Sexualtherapeuten David Schnarch ins Spiel (der leider im letzten Jahr verstorben ist). Diese vier Punkte können als Rezept für aktives Lieben verstanden werden.

  • Stabiles und flexibles Selbst

Das Selbst ist vor allem nach C.G. Jung der eigene Wesenskern, es ist weder kindlich noch traumatisiert oder ängstlich. Es ist der Anteil in uns, der sich um das sogenannte „innere Kind“ kümmern kann. Dabei ist es das Zentrum der eigenen Persönlichkeit und so stabil und flexibel wie Bambus. 

  • Stiller Geist  – ruhiges Herz

Der Geist wird still und das Herz ruhig, wenn klar ist, dass wir die 100%ige Verantwortung für die eigenen Gefühle haben. Wichtig ist dabei, zu lernen, sich selbst beruhigen zu können nach einer Niederlage, Verletzung oder Zurückweisung. Diese Aufgabe nicht an andere Menschen abzugeben, sondern selbst in die Hand zu nehmen ist der Schlüssel zur Entspannung und Beruhigung.  

  • Maßvolles Reagieren

Klingt langweilig, ist es aber nicht. Maßvoll bedeutet nicht, Freude, Neugier und Lebendigkeit zu unterdrücken. Selbst Wut, Trauer, Schuld und Scham sind sogar willkommene Gäste. Maßvoll bedeutet angemessen.
Das Gegenteil, das maßlose Reagieren, setzen wir meist dann ein, wenn die eigenen Gefühle uns Angst machen und wir sie unterdrücken wollen. Dann wird geschrien, geheult, gebettelt und manipuliert. Das ist die übliche Aufführung, die wir schon als Kind erlernt haben. Der Trick dabei: hinter dieser Überreaktion herrscht Sicherheit, denn niemand kann jetzt mehr in Beziehung zu uns gehen.

  • Sinnvolle Beharrlichkeit

1000 Übungsstunden braucht jemand um Meister*in in etwas zu werden. Das gilt auch für die Meisterschaft im Lieben. Es geht darum, sich dem anderen immer wieder mutig zuzuwenden, die 100%ige Verantwortung zu übernehmen und sich selbst und damit auch den anderen immer besser kennen und lieben zu lernen. 

All das lässt sich in langjährigen Beziehungen ganz besonders gut üben.

Die 4 Punkte der Balance in der Praxis 

Zurück zu Verena. Wie konnte ihr in der aktuellen Situation dieses Wissen helfen? 

  • Stabiles und flexibles Selbst
    Seit Jahren schon hat sie sich aus der Beziehung zu Peter zurück gezogen. Die ständige Wiederholung des einen Satzes in ihren Gedanken war das Ende der Fahnenstange. Jetzt hängt sie da oben und muss entscheiden, ob und wie sie wieder herunter klettert. 
    Verena beschließt, dass sie wieder in Beziehung zu Peter gehen will. Sie bittet ihn, doch gemeinsam an der Beziehung zu arbeiten und auch zu mir in die Beratung zu kommen.
    „Auf keinen Fall, ich finde sowas albern,“ ist seine Antwort. Sie denkt an den Bambus, biegt sich innerlich aber bleibt doch stehen.
  • Ruhiger Geist und stilles Herz
    Sie spürt die schroffe Zurückweisung von Peter auf ihre Bitte wie einen Stich in der Herzgegend. Das innere Kind ist gekränkt und beleidigt, es denkt, niemand ist so kalt und herzlos wie er. Dabei ist er ja nicht verpflichtet, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und auf eine Bitte kann man auch nein sagen. Selbstverständlich hätte sie es gerne anders und ja, sie ist verletzt.
    Keine einzige langjährige Beziehung kommt ohne gegenseitige Verletzungen aus. Es kommt darauf an, wie Verena jetzt mit dieser Verletzung umgeht.
    Sie weiß, dass sie selbst für ihre Gefühle zuständig ist.
    „Ich wünsche mir wirklich sehr, dass wir das zusammen machen.“
    „Ne, das mache ich nicht.“ sagt Peter stur. 
    Sie nimmt das zur Kenntnis und erzählt ihm von unserer Sitzung und der Entdeckung ihrer Tante. Peter hört zu und schweigt. 
  • Maßvolles Reagieren
    Verena respektiert das Nein ihres Partners, zieht sich auch nicht beleidigt zurück, aber sie bleibt dennoch bei ihrem Wunsch. Sie bittet ihn mit ihr gemeinsam eine Sitzung mit mir anzuschauen. Das ist möglich, da die meisten Sitzung aufgezeichnet werden und hinterher meinen Kunden zur Verfügung stehen. 
    Das anschließende Gespräch wird intim und es berührt Verena so sehr, dass ihr die Tränen kommen. Das wäre ihr früher nie passiert. Sie hätte sich zum Weinen zurück gezogen, jetzt zeigt sie ihm ganz ehrlich was sie fühlt. Auch Peter schafft es zu bleiben. Beide nehmen einander in den Arm.
  • Sinnvolle Beharrlichkeit
    Verena bleibt dran an ihrem Bedürfnis. Wir sprechen darüber in der nächsten Sitzung. „Ich verstehe einfach nicht, warum er das nicht mir zu Liebe machen kann“ sagt sie und schaut mich fragend an. „Das werden wir beide nicht heraus finden,“ antworte ich ihr. Denn für Spekulationen über die Gefühle einer nicht anwesenden Person stehe ich nicht zur Verfügung.       

    Stattdessen erforsche ich mit ihr, wie sie lernen kann, ein Nein zu akzeptieren und wieviel Gewalt hinter ihrem Versuch steckt, Peter zu überreden. Sie beginnt zu verstehen, was es heißt wirklich die Verantwortung für den eigenen Gefühlszustand zu übernehmen. Allerdings gelingt es ihr, Peter immer mehr in ihre eigene Entwicklung einzubeziehen. Sie erzählt ihm von sich und zeigt immer mehr Facetten ohne von Peter dasselbe zu erwarten. Die Gespräche und der Austausch miteinander werden lebendiger, sogar körperlicher Kontakt wird möglich.  

    Verena ist nicht mehr einsam trotz Beziehung – ganz im Gegenteil. 
    „Mittlerweile ist es mir wirklich nicht mehr wichtig, ob Peter mal mitkommt zu einer Sitzung oder nicht. Wir sind im Austausch und darum ging es mir hauptsächlich. Das weiß ich jetzt.“ Sagt sie in der vorerst letzten Sitzung.       

Im Moment sieht es so aus, dass auch Verena meine Unterstützung nicht mehr braucht und das ist gut so. 
Jetzt braucht sie vor allem Zeit, den Kontakt zu Peter ganz neu zu gestalten und auch sich selbst immer besser kennen zu lernen. Wenn es dann mal wieder hakt, bin ich gerne erneut für sie da. Und wer weiß, vielleicht lerne ich dann auch Peter kennen.

 

* Die Namen sind selbstverständlich geändert, die Umstände verfremdet und ich habe mir das grundsätzliche Einverständnis geholt, anonym über ihre Geschichte zu erzählen.


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