Schon seit Monaten geht es Anna* nicht gut, sie weiß auch genau seit wann. Als der gemeinsame Sohn zu Hause auszog, war da plötzlich diese unerwartete Leere. Zwar hatte sie schon befürchtet, dass es nicht leicht werden würde, aber dass es so schlimm kommen kann, war ihr nicht klar. Anna ist vom Empty Nest Syndrom befallen.
„Am schlimmsten war unsere Silberhochzeit im letzten Jahr. Seitdem will ich eigentlich nur noch weg,“ sagt Anna.
Dabei ist an dem Tag gar nichts Schreckliches passiert. Sie und ihr Mann saßen lediglich in einem sehr teuren Restaurant bei Kerzenschein und bestem Essen und hatten sich nichts zu sagen. Immer wieder versuchte sie ein Gespräch anzufangen, doch ihr Mann blieb einsilbig. Als sie von der Toilette zurück kam, hatte er das Handy in der Hand. Sie resignierte und schwieg, doch innerlich war sie stinksauer. Wie schon so oft.
Anna erzählt weiter, dass sie sich nach dem Essen auf das verlassene Bett ihres Sohnes legte und stundenlang weinte, während ihr Mann schlafen ging. Schon seit Jahren nutzen sie getrennte Schlafzimmer. Und so hatte ihr Mann keine Chance, überhaupt etwas von ihrem Schmerz zu bemerken. Anna befindet sich schon lange im Rückzug ihrem Mann gegenüber.
Es gibt die innere Kündigung nicht nur im Job, es gibt sie definitiv auch in Beziehungen.
An diesem Abend im verlassenen Bett des Sohnes wird Anna klar, dass sich etwas ändern muss.
Einsam trotz Partner
Am nächsten Morgen schlägt sie ihrem Mann vor, gemeinsam zur Paartherapie zu gehen. Er reagiert entsetzt und will nichts von einer Therapie wissen! Warum auch? Für ihn war bislang alles in Ordnung.
„Jetzt bleibt mir nur noch die Trennung,“ sagt Anna, „aber das will ich eigentlich auch nicht. Deshalb bin ich hier.“
Es ist gut, dass sie sich Hilfe bei einem außenstehenden Profi sucht, statt die Scheidung einzureichen. Das schließt natürlich nicht aus, dass es am Ende doch darauf hinaus läuft. Doch zunächst geht es darum heraus zu finden, was Anna wirklich so belastet. Vielleicht ist es gar nicht die Ehe und dann würde eine Scheidung auch nichts besser machen.
„Ich fühle mich wie in einem Knäuel aus Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Angst,“ sagt sie.
Das sind exakt die Zutaten, aus denen das Empty Nest Syndrom besteht.
Empty Nest Syndrom
Den Begriff Empty Nest Syndrom haben amerikanische Soziologen bereits in den 60er Jahren geprägt. Er beschreibt eine Anpassungsstörung, die sich nach dem Auszug der Kinder entwickeln kann. Dabei zeigt sich eine Gefühlslage aus Trauer, Einsamkeit und Perspektivlosigkeit.
Der Auszug der Kinder, kündigt sich zwar vorher an, kommt dann aber doch unvermittelt. Er markiert den Punkt im Lebenslauf, an dem ein Lebensabschnitt definitiv zu Ende geht. Und wie bei jedem Übergang von einem Abschnitt in den nächsten, taucht zunächst Unsicherheit auf.
Natürlich kommt auch ein Gefühl von Freiheit hinzu, doch meist überwiegt am Anfang die Trauer des Abschieds. Wenn die Traurigkeit allerdings mit der Zeit immer schlimmer wird und sich auch nach ein bis zwei Jahren nicht löst, dann kann aus dem Empty Nest Syndrom eine ernsthafte psychische Erkrankung werden.
Anna ist rechtzeitig zu mir gekommen. Sie steckt in einer tiefen Sinnkrise, die häufig mit diesem Lebensabschnitt einhergeht, vollkommen unabhängig davon, ob jemand Kinder hat oder nicht. Bei kinderlosen Menschen ist es nicht das leere Nest, sondern das leere Leben, das zur Krise führt. Das nennt sich dann Midlife Krise und ist ein ziemlicher ähnlicher Zustand aus Trauer und Sinnlosigkeit.
Was Anna sich von mir vor allem wünscht, ist Hilfe gegen die Einsamkeit und Klarheit, ob ihre Beziehung noch zu retten ist. Außerdem fühlt sie sich gesellschaftlich ausgeschlossen. Sie führt das darauf zurück, dass sie in ihrem Leben immer wieder falsche Entscheidungen getroffen hat.
Selbstverurteilung und Einsamkeit
Die Aufgabe, ein Kind zu erziehen, hat Anna immer als ihre wichtigste Aufgabe gesehen. Jetzt, wo der Sohn erwachsen ist, ist da diese Leere und heftige Selbstzweifel überfallen sie.
Sie traut sich allerdings kaum darüber zu sprechen, denn sie fürchtet sich vor der Verurteilung durch die anderen. Immer wieder fühlt sie sich dafür belächelt oder gar verachtet, dass sie in ihrem Leben „nur“ Mutter war. Mittlerweile zweifelt sie selbst an sich und zieht sich von den Freundinnen zurück.
Dabei wäre sie so gerne stolz darauf, was sie alles für ihren Sohn getan hat. Dass er nie ein Schlüsselkind war und es immer warmes selbstgekochtes Essen gab. Dafür kommt sie sich heute altbacken und wie von gestern vor. Sie wünscht sich Anerkennung und Dankbarkeit für die Zeit, die sie für ihn da war. Stattdessen hört sie nur, lass ihn los und finde eine Beschäftigung für dich.
Beschäftigung finden ist allerdings nicht so ihre Sache. Das hat sie einfach nicht gelernt. Immer waren es andere, die etwas von ihr wollten. Auch um ihre Eltern und Schwiegereltern hat sie sich gekümmert. Sie ließ sich gerne darauf ein und so wurde sie ihr Leben lang von den anderen beschäftigt. Bis jetzt, denn jetzt ist niemand mehr da, der sie beschäftigen will.
Leider sind sowohl ihre Eltern als auch die Schwiegereltern in den letzten 5 Jahren nach und nach verstorben. Anna ist zutiefst einsam und orientierungslos. Ihr Mann geht in seiner Arbeit als Produktionsleiter in einem mittelständischen Betrieb auf. Als Paar haben sie sich komplett aus aus den Augen verloren. Sie weiß wenig über ihn und seine Gedanken. Er teilt sich nicht gerne mit.
Loslassen
Der Sohn ist gut geraten, würde man sagen. Sein Abitur hat er mit 1,7 bestanden und dann ging er gleich für einen längeren Auslandsaufenthalt nach Peking. Als er zurück kam, zog es ihn zum Studieren nach Köln. Es geht ihm gut, das Verhältnis zu seinen Eltern ist freundlich und zugewandt. Da ist nichts worüber sie sich Sorgen machen müsste.
Anna hat sich sogar schon bei dem Wunsch ertappt, es wäre anders und er würde sie noch brauchen. Viel zu selten kommt mal eine Nachricht von ihm. Sie weiß, dass sie ihn loslassen muss, tapfer hält sie sich zurück und nervt ihn nicht mit SMS oder WhatsApp Nachrichten. Obwohl er sagt, sie kann sich doch melden, weiß sie, dass das nicht der richtige Weg ist.
Anna fehlt eine Aufgabe im Leben. Erstmals ist sie aufgefordert, sich selbst in den Mittelpunkt des eigenen Lebens zu stellen. Aber sie hat keine Ahnung, wie das geht. Bisher hat sie viel zu viel passiv über sich ergehen lassen, aus Angst ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch es ist noch nicht zu spät. Es ist eigentlich nie zu spät, Verantwortung für sich zu übernehmen.
Den eigenen Weg gehen
„Ich würde so gerne den Jakobsweg gehen, aber alleine trau ich mich nicht,“ sagt Anna in der dritten Beratungsstunde zu mir. Das ist ein Traum, der sie schon seit vielen Jahren begleitet. Damals, als sie das Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg“ las, war sie sofort begeistert. So eine Wanderung würde sie gerne selbst einmal unternehmen.
Ihr Mann will aber auch das nicht mitmachen. Eine Freundin vielleicht, aber es fällt ihr keine ein, die Zeit und Lust dazu hat. Und dann hat sie ja auch immer wieder diese Schmerzen in der Hüfte. Und wer würde sich in der Zeit um den Garten und den Haushalt kümmern?
So listet sie ein Argument nach dem anderen auf, warum es nicht geht. Ich höre ihr zu, frage nach, was das Schlimmste sei, das passieren kann, wenn sie ginge. Etwas richtig Schlimmes fällt ihr nicht ein.
Am Ende biete ich ihr sogar an, sie zu begleiten, natürlich nicht physisch, sondern per Mail. Eine Unterstützung per Mail ist auch ohne Jakobsweg Teil meiner Beratung.
Mail vom Jakobsweg
Einige Wochen höre ich nichts von ihr. Ich denke schon, dass sie ihren Plan wohl aufgegeben hat. Doch dann kommt plötzlich eine Mail vom Jakobsweg! Anna ist bereits startklar und steckt in den Pilgerschuhen. Sie fragt, ob das Angebot, sie zu begleiten noch stehe? Ich bin ehrlich erfreut und gerne dabei.
Anna’s Weg heraus aus dem Empty Nest Syndrom führt über diesen Pilgerweg. Das wird von Mail zu Mail deutlicher. Am Anfang kommt jeden Tag eine Mail, zweimal treffen wir uns auch online in meinem virtuellen Besprechungsraum. Doch im Laufe des Weges kommen immer weniger Mails von ihr.
Nach und nach gelingt es ihr, die Gedanken am Abend selbst zu sortieren, sie schreibt ein Tagebuch. Allein zu sein fällt ihr zunehmend leichter. Ganz bewusst verzichtet sie in der dritten Woche auch auf den Kontakt mit anderen Pilger*innen, von denen es unzählige gibt.
6 Wochen ist Anna unterwegs auf dem Camino Francés, dem ca. 800 Kilometer langen Hauptweg von den Pyrenäen bis nach Santiago de Compostela. Die erste Woche will sie jeden Abend abbrechen. Schmerzen, Einsamkeit, Regen und Insekten setzen ihr stark zu.
Aber sie bleibt dran und dann, irgendwo zwischen Blasenschwäche und Blasen an den Füßen, entdeckt sie ihre eigene Stärke. Sie verteidigt sich gegen wild laufende Hunde, kämpft um den letzten Platz in der überfüllten Herberge und singt laut gegen die Einsamkeit auf dem Weg!
Schuldgefühle und Trauer
Als die Schuldgefühle sie überfallen, treffen wir uns virtuell. Sie hat sich nach der Geburt des Sohnes gegen den Willen ihres Mannes sterilisieren lassen. Nie wieder wollte sie so etwas Dramatisches erleben wie die Geburt eines Kindes.
Sie war sich ihrer Sache sicher und konnte auch dem Arzt und ihrem Mann selbstbewusst klarmachen, dass für sie eine weitere Geburt nicht in frage käme. Sie kann sehr überzeugend sein. Erst hier, auf dem Weg, erinnert sie sich daran, dass ihr Mann damals sehr oft versucht hat, sie zu überzeugen, es nicht zu tun.
Sie selbst hat diesen Schritt nie bereut. Wenn Freundinnen von Problemen mit der Verhütung sprachen, war da diese Erleichterung, dass das Thema sie nicht mehr betreffen würde. Die Erkenntnis, dass ihr Mann deshalb auf weitere Kinder verzichtet hat, trifft sie plötzlich wie ein Schlag. Ja, Verdrängung ist ein gut funktionierendes Hilfsmittel gegen Schuldgefühle.
Sie weiß natürlich, dass sie sich damals gegen seinen Willen durchgesetzt hat. Aber sie hat das Gefühl, das damit einhergeht, immer erfolgreich verdrängt und auch nie wieder mit ihm darüber gesprochen. Plötzlich wird ihr bewusst, wie sehr sie sich ihm gegenüber dafür geschämt hat, ihm weh getan zu haben. Sie wollte seinen Schmerz darüber nicht sehen, konnte ihn kaum ertragen.
In der Sitzung machen wir eine Aufstellung mit Figuren und Anna probiert den Satz zu ihrem Mann: „Es tut mir leid, dass ich dir die Möglichkeit für weitere Kinder mit mir genommen habe. Ich habe mich damals gegen uns und für mich entschieden. DANKE, dass du trotzdem geblieben bist.“
Diesen Satz könnte sie später auch zu ihrem Mann sagen, aber es ist nicht zwingend notwendig. Eine Veränderung ist allein damit angestoßen, dass sie sich über die eigenen Gefühle bewusst wird. Es reicht, dass sie spürt, welches Drama sich in ihr abspielt, komplett unabhängig von ihrem Mann.
Da sie nie mit ihm nie mehr darüber gesprochen hat, hat sie keine Ahnung, wie es ihm wirklich mit der Situation geht. Aber die ehrliche Beschäftigung mit dem eigenen inneren Bild des Partners, verändert die Wahrnehmung des echten Partners. Diese andere Haltung ihm gegenüber, getragen von Dankbarkeit dafür, dass er geblieben ist, macht endlich auch wieder echte Begegnungen zwischen Anna und ihrem Mann möglich.
Als sie später in einer Paarsitzung das Thema noch einmal anspricht, freut er sich sehr über ihre ehrliche Dankbarkeit. Er selbst hatte allerdings schon lange die positive Seite gesehen und war froh darüber, dass es bei einem Sohn geblieben ist. Er hatte immer darunter gelitten, dass er für ihn kaum Zeit hatte, weitere Kinder hätten das sicher noch schlimmer gemacht.
Der Sohn
Kurz vor dem Ende des Weges, meldet sich Anna noch einmal. Ihr Sohn hat sich angekündigt. Er möchte sie gerne die letzten zwei Tage begleiten. Anna ist unsicher, ob sie das auch möchte. Wir schauen gemeinsam wieder mit Hilfe der Figuren auf die Verbindung zu ihrem Sohn.
Sie spürt die tiefe Liebe, die sie für ihn hat. Sie spürt auch ihre Sehnsucht danach, mit ihm verbunden zu bleiben, ihn an ihrer Seite zu halten. Und sie spürt den dramatischen Schmerz darüber, dass das nicht geht. Als sie erkennt, dass sie ihn als Partnerersatz „missbraucht“ hat und ihm über die Jahre unbewusst suggeriert hat, er wäre besser als der Papa, ist sie entsetzt!
Der Satz „Du bist jetzt ein Mann, wie der Papa,“ löst auch hier etwas in ihr. Sie weint heftig, aber dann wird sie plötzlich ganz ruhig und klar. Sie kann sogar voller Zustimmung sehen, dass sich die Figur, die stellvertretend für ihren Sohn vor ihr steht, umdreht und einen Schritt in das eigene Leben geht.
Sie entscheidet sich dafür, dass der Sohn sie die letzten zwei Tage begleiten kann. Es wird sein Abschied von einem großen Schmerz seiner Kindheit. Das wird allein durch die veränderte Haltung von Anna möglich. Sie sprechen kaum und schon gar nicht über die Aufstellung der Figuren, aber der Sohn spürt, dass er jetzt frei ist. Endlich hat er eine echte Chance, ein erwachsener Mensch zu werden und kein „Muttersöhnchen“.
Die Verbindung der beiden hat sich entwickelt und Anna fällt auf, dass sie auch später nicht mehr das Bedürfnis hat, ihn bei dem Namen zu nennen, den sie ihm als kleines Kind gab. Statt Paulchen heißt er nur noch Paul, sogar wenn sie an ihn denkt, denkt sie nicht mehr in der verniedlichenden Form an ihn.
Angekommen
Im Ziel angekommen ist Anna eine andere Frau, die über sich selbst viel erfahren hat. Das Empty Nest Syndrom ist überwunden.
Später kommen Anna und ihr Mann noch für einige Paarsitzungen zu mir, denn Anna hat gelernt so zu fragen, dass er „Ja“ sagen kann. Wie oben beschrieben kann auch das Thema der Sterilisation von Anna in diesen Sitzungen bearbeitet werden. Am Ende entscheiden sie sich, als Paar zusammen zu bleiben, jedenfalls vorerst. Beruflich wagt Anna einen Wiedereinstieg als Ingenieurin. So verlässt auch sie das leere Nest, denn auch in der Natur bleiben die Elternvögel nicht in dem leeren Nest sitzen.
* Anna’s Geschichte ist natürlich eine freie Erzählung, die auf wahren Begebenheiten aus meinen Beratungen basiert.
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