Der verlorene Zwilling

Der verlorene Zwilling

Es ist nicht leicht eine glückliche Beziehung zu leben. Schon gar nicht über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Es gibt immer wieder Krisen, die überwunden werden wollen. Durch jede überstandene Auseinandersetzung mit dem anderen finden wir näher zueinander und auch näher zu uns selbst. Worum es mir in diesem Artikel geht ist ein Phänomen, das genau diese Auseinandersetzung innerhalb einer langjährigen Beziehung deutlich erschwert. 

Der verlorene Zwilling

Es geht um den allein geborenen oder verlorenen Zwilling. Immer wieder begegnen mir in meiner Arbeit Menschen, die unter diesem „Syndrom“ leiden. Dabei handelt es sich um Menschen, die im Mutterleib am Anfang der Schwangerschaft nicht allein waren. Laut Statistik betrifft das ca. 10 % der Menschen. Durch die fortschreitende Reproduktionsmedizin ist die Tendenz steigend, denn bei der In-Vitro Fertilisation werden meist mehrere befruchtete Eizellen in die Gebärmutter eingesetzt, denn man weiß bereits, dass nicht alle überleben werden. Diese (noch) 10 %  der Menschheit waren zu Beginn ihrer Entwicklung im Bauch der Mutter nicht allen. Es waren zwei oder sogar noch mehr Eizellen befruchtet aber sie wurden dann später allein geboren. Dadurch kommt es zu dem Phänomen des „verlorenen Zwilling“.

Der verlorene Zwilling und der Zweifel

Der allein geborene Zwilling hat fast immer mit Symptomen zu kämpfen, die er sich nicht erklären kann. Der Verlust, den er oder sie erlebt hat, fand „vorbewusst“ und ohne Zeugen statt. Meist wird er niemals sicher wissen, ob es einen Zwilling gab oder nicht. Das macht es für die Betroffenen umso schwerer. Trotzdem rate ich jedem, der sich von diesem Thema angesprochen fühlt, genauer nachzuforschen.

Vielleicht gibt es körperliche Anzeichen, wie Teratome (das sind gutartige Geschwülste, die Reste von Gewebe, Haaren oder Nägeln enthalten) oder  sogar doppelt oder mehrfach vorhandene Organe. Vielleicht erinnert sich die Mutter auch noch an Auffälligkeiten während der Schwangerschaft oder Geburt. Ein Hinweis können Blutungen in der frühen Schwangerschaft sein oder eine doppelte Plazenta. Leider ist das selten der Fall, denn die Zwillinge gehen häufig schon in der frühen Phase der Schwangerschaft und sie hinterlassen keine Spuren – außer Spuren in der Seele des allein geborenen Zwillings. Nicht immer muss es dann im weiteren Verlauf des Lebens ernsthafte Probleme geben. Das ist sehr individuell, wie bei jedem anderen dramatischen Ereignis eben auch. Wenn das Kind liebevoll und umsorgt aufwächst, wenn vielleicht sogar auf alle Eigenheiten des Kindes eingegangen wurde, dann kann es den Verlust unter Umständen sogar ohne Symptome gut verarbeiten.

Häufig zeigen sich aber immer wieder ähnliche Symptome, die zwar auch andere Ursachen haben können, aber sie können eben auch ein Hinweis auf einen verlorenen Zwilling sein. Peter Bourquin und Carmen Cortés nennen u.a. folgende Grundgefühle und Überzeugungen in ihrem Buch „Der allein gebliebene Zwilling“

  • Ich habe keinen Platz im Leben
  • Ich verspüre ständig Angst
  • Ich sollte nicht hier sein
  • Niemand sieht mich wirklich
  • Ich fühle ich einsam
  • Ich fühle mich schuldig
  • Es fehlt mir etwas im Leben
  • Ich muss mir das Recht zu leben verdienen

Der verlorene Zwilling in der Partnerschaft

Diese Grundgefühle und Überzeugungen können vor allem in der Partnerschaft zu Problemen führen. Wenn sich allein geborene Zwillinge verlieben, haben sie oft das Gefühl, endlich das (oder denjenigen) gefunden zu haben, was sie vermissen. Hört das Verliebtsein aber nach einiger Zeit wieder auf, fällt es ihnen sehr schwer das auszuhalten. Sie klammern oder sie ergreifen die Flucht. So kann es passieren, dass der alleingeborene Zwilling denkt, okay, das war es jetzt doch wieder nicht. Er trennt sich und sucht weiter. Ohne zu ahnen, dass hier lediglich eine Verwechslung vorliegt. Viele allein geborene Zwillinge sind deshalb jahrelang Single und geben die Hoffnung auf eine glückliche Beziehung irgendwann sogar ganz auf.

Oder sie bleiben in der Beziehung und suchen aber weiter nach dem Zwilling. Sie sind körperlich anwesend aber innerlich immer noch auf der Suche. Dann haben sie häufig Außenbeziehungen oder propagieren sogar die freie Liebe, weil sie denken, ein einzelner Mensch kann als Partner doch niemals genug sein. Der Hintergrund ist auch hier, dass sie eigentlich auf der Suche nach etwas ganz anderem sind, nämlich nach dem Zwillingsgeschwister.

Auch in der Sexualität zeigen sich Probleme. Die innige Liebe nach der sie sich sehnen ist eine Geschwisterliebe und keine erwachsene Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Die Beziehung bleibt manchmal geschwisterlich mit wenig oder sehr kindlichem Sex oder die Sexualität ist sehr stark mit Angst verbunden.

Angst ist häufig ein ständiger Begleiter in der Beziehung. Vor allem die Angst, den anderen wieder zu verlieren, denn das war die frühe Erfahrung und die war so dramatisch und schmerzhaft, dass ein allein geborener Zwilling immer wieder versucht diese Erfahrung zu vermeiden. Leider führt genau diese Vermeidungshaltung oft dahin, dass eine echte Verbundenheit nicht entstehen kann. Zwischen dem allein geborenen Zwilling und seinem oder ihrem Partner steht sehr oft die Angst vor Verlust und ein diffuses Schuldgefühl.

Wie immer gibt es auch hier die Möglichkeit, das Beste daraus zu machen. Wir müssen nicht stecken bleiben in dieser Sehnsucht.

Leitfaden zur Integration

Wenn die Symptome so belastend sind, dass die Betroffenen professionelle Hilfe suchen, beginnt ein Prozess, den Bourquin und Cortés ebenfalls in ihrem Buch skizzieren. Ich möchte ihn hier verkürzt und etwas verändert als eine Art Orientierungshilfe wiedergeben möchte.

  1. Den Anfang macht das Erkennen, ein allein geborener Zwilling zu sein. Noch ist das Wissen um dieses Phänomen so wenig bekannt, denn oft ist das schon ein Meilenstein auf dem Weg zur Integration des Erlebten. Plötzlich wird so vieles klar.
  2. Jetzt geht es darum den Zweifel zu überwinden. Es gibt wie erwähnt selten eine Sicherheit, dass es so gewesen ist. Deshalb bleiben Zweifel und es kommt auch zu kritischen Äußerungen von anderen. Aber irgendwann gelangt man zu dem Punkt, an dem man die eigene Wahrheit annimmt und sich nicht länger von den anderen beirren lässt.

  3. Jetzt endlich darf eine Beziehung zum verlorenen Zwilling aufgebaut werden. Natürlich steckt diese Beziehung voller Sehnsucht und Schmerz, Angst und Schuldgefühl. Wer den Mut hat, sich den Gefühlen zu stellen, wird aber mit einer zuvor ungeahnten Klarheit belohnt. Endlich machen die eigenen Gefühlen einen Sinn. Diese Sicherheit, das „richtige“ zu fühlen, hat bisher im Leben so schmerzlich gefehlt.

  4. Natürlich ist es jetzt wichtig, sich selbst und den eigenen Kern von dem Zwilling abzugrenzen. Es geht darum ganz klar zu sehen, dass wir überlebt haben und der oder die andere nicht. Das wir ein unterschiedliches Schicksal haben und dass niemand daran schuld ist. Das ist aber auch erst jetzt möglich nachdem es überhaupt eine Beziehung gibt. Vor allem ist es auch jetzt erst möglich, den Partner von der „Zwillingsprojektion“ zu befreien. Das ist vor allem für den Fortbestand der Beziehung unglaublich befreiend. Manchmal ist es auch erst jetzt möglich Außenbeziehungen zu beenden, die immer wieder für Verletzungen innerhalb der Partnerschaft gesorgt haben, zu beenden.
  5. Im nächsten Schritt gilt es, die innere und äußere Welt zusammen zu bringen. Bisher hat der allein gebliebene Zwilling häufig versucht, sein Leben für den anderen mit zu leben, z.B. vieles doppelt zu kaufen, zwei Berufe zu erlernen oder auszuüben und häufige Wohnungs- und Freundeskreiswechsel. Jetzt gilt es zu verstehen, dass es gar nicht möglich ist für den anderen mit zu leben. Und es gilt ebenso zu verstehen, dass der allein geborene Zwilling leben darf. Im Gegensatz zu dem verstorbenen Geschwister und zwar ohne Schuldgefühle.

  6. Ist die Differenzierung im vorherigen Schritt gelungen, braucht manchmal das eigene „innere Kind“ noch einmal ganz gezielte Zuwendung. Denn das noch ungeborene Baby, das der allein geborene Zwilling einmal war, hat ein schweres Trauma erlitten. Und so wie es bei erlittenem Trauma oft nötig ist emotionale und energetische Blockaden im Körper aufzulösen, so kann das auch für allein geborene Zwillinge notwendig sein. Hier wirkt die Körperarbeit im Wasser wahre Wunder.

  7. Jetzt ist es an der Zeit den anderen wirklich gehen zu lassen. Es geht nicht darum ihn oder sie ganz zu vergessen. Wir dürfen weiterhin mit unserem verlorenen Zwilling verbunden bleiben. So wie wir mit allen Menschen, die wir sehr geliebt haben und die verstorben sind, eine Verbindung behalten. Vielleicht braucht es noch ein Beerdigungsritual? Oder eine Zeremonie, die dabei hilft wirklich zu verstehen, dass wir allein geboren wurden.  So kommt die Trauerarbeit zu einem Abschluss.

  8. Irgendwann vergisst man die ganze Geschichte! Das klingt für viele, die noch am Anfang stehen, unmöglich und dennoch ist es wahr. Das ist ja der Grund, warum es gut ist, sich dem ganzen Drama zu stellen, denn nur so ist es möglich zu einem Ja zum eigenen Schicksal zu finden und eine heilsame Bindung zu unserem geliebten Geschwister zu bewahren.

Mir ist sehr bewusst, dass ich nicht alles zu dem Thema gesagt habe und dass es ganz individuelle Wege gibt, damit umzugehen. Mir ging es darum, mehr Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Sich dieser Dramatik zuzuwenden, kann ganz viel Leid ersparen. Wer sich jetzt angesprochen fühlt, sollte diesem Gefühl vertrauen und sich z.B. mit dem Buch von Alfred Ramoda und Bettina Austermann „Das Drama im Mutterleib – der verlorene Zwilling“ oder dem zuvor schon erwähnten Buch von Peter Bourquin und Carmen Cortés  „Der allein gebliebene Zwilling“ dem Thema nähern. Und irgendwann kann es nötig sein, sich externe Hilfe zu holen. 

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