Innere Anteile
Nicht erst Richard David Precht hat heraus gefunden, dass wir mehr als eine Person sind und verschiedene innere Anteile haben. Sein Buch „Wer bin ich und wenn ja wieviele“ hat diesen Ansatz philosophisch und populär in unserer Gesellschaft verbreitet. Es erschien 2007 und stand viele Jahre auf der Bestsellerliste. Und auch Friedemann Schulz von Thun kennt innere Anteile und nutzt sie für die Arbeit mit dem inneren Team.
Aber schon von Goethe stammt das berühmte Aufstöhnen „Zwei Seelen wohnen ach in meiner Brust“ und seit einiger Zeit etabliert sich der Begriff „Teile Psychologie“ für die Arbeit mit den inneren Persönlichkeitsanteilen. Was genau bedeutet dieses philosophisch-psychologische Konstrukt aber für unsere Beziehungen? Als Paartherapeutin interessieren mich natürlich vor allem unsere engsten Liebesbeziehungen. Wie wirkt sich das Modell des inneren Teams in unseren langjährigen Beziehungen aus und was können wir durch dieses Modell verstehen oder sogar lösen?
Wirklich gute und neue Antworten auf diese Fragen finde ich bei Artho Wittemann und seinem Ansatz der Individual Systemics.
Er unterteilt die inneren Personen in machtvolle und bedürftige Personen und er behauptet, dass die machtvollen Personen stets dafür da sind, eine bedürftige Person in unserem inneren zu schützen. Vielfach werden diese bedürftigen Personen auch innere Kinder genannt.
3 Phasen der Liebe
Jeder kennt sie, die 3 Phasen der Liebe, Himmel, Hölle und Durststrecke, die wir meisten auch noch mit ein und derselben Person wiederholt erleben dürfen. Ich kenne keine langjährige Beziehung, die nur eine der drei Phasen kennt. Zum Glück erwarten wir das auch nicht mehr von unseren Liebesbeziehungen. Trotzdem bleiben diese beiden Fragen offen:
- Warum sind wir oft so? (unlogisch, verletzend, rücksichtslos, intolerant, egoistisch usw.)
- Warum sind wir nicht immer so? (glücklich, freundlich, rational, kreativ, offen, ehrlich usw.)
Die Antwort auf beide Fragen ist eigentlich ganz einfach:
Wir sind VIELE!
Leider lieben nicht alle dieser vielen inneren Anteile unseren Partner oder unsere Partnerin, manche liegen sich auch ernsthaft in den Haaren und andere sind sich sogar vollkommen gleichgültig.
Eine Möglichkeit mit diesem inneren Zustand umzugehen wäre jetzt, Anteile aus der Beziehung zu verbannen und sie dann einfach woanders auszuleben. Am besen geht so etwas natürlich in der gerade wieder modernen offenen Beziehung. Wer das weder mit sich und der Gesellschaft noch mit den eigenen Werten vereinbaren kann, muss sich aber leider etwas Anderes überlegen.
Wenn es also wieder zum großem Streit oder zu langen Durststrecken kommt, könnt ihr wie folgt vorgehen.
- Annehmen und aussprechen, dass es so ist wie es ist
- Verstehen, seit wann es so ist und woher diese Situation wahrscheinlich kommt
- Veränderungs- oder Lösungsstrategien verfolgen
Ja, das ist alles nicht mal eben so nebenbei erledigt, es dauert eine gewisse Zeit und es ist auch Arbeit, manchmal tut es auch weh, aber es darf auch Spaß machen. Eine gute Voraussetzung für diese Art des Umgangs mit sich selbst und der eigenen Beziehung ist die Lust darauf, sich und die inneren Anteile kennen zu lernen.
Zwei Arten innere Anteile
Es gibt laut Wittemann nur zwei Arten innere Anteile, da sind zunächst einmal die machtvollen Spezialisten. Sie können etwas und tragen zum Leben bei. Daneben existieren aber auch noch die anderen, die kleinen Spezialisten. Sie wissen wenig und sind sehr empfindsam und dünnhäutig.
Etwas müssen wir unbedingt wissen. Die machtvollen Anteilen beschützen die kleinen und verletzlichen inneren Anteile. Sie reagieren sofort mit typischen Verhaltensmustern, sobald ein innerer Anteil in Gefahr gerät. Damit erklären sich bereits seltsame Überreaktionen oder hysterische Anfälle und Wutausbrüche. Alle diese Verhaltensweisen dienen nur dem Schutz eines inneren verletzlichen Anteils. Im Streit stehen sich also immer zwei machtvolle Spezialisten gegenüber und sie schützen den jeweils eigenen inneren verletzlichen Anteil. Beide haben recht und beide verteidigen ihre verletzliche Seite.
Ja oder Nein zur Welt
Noch etwas ist wichtig beim Kennenlernen der eigenen Spezialisten, sowohl die machtvollen als auch die verletzlichen Anteilen können sowohl „Ja“ als auch „Nein“ zur Welt sagen. Manchmal stecken sie schon über Jahre in einer dieser beiden Aussagen fest. Ein ständiges „Nein“ bedeutet ständiger Kampf und ein ständiges „Ja“ führt zur Aufgabe und Resignation, weil keinerlei Abgrenzung erfolgt.
Die Liebesbeziehung und die inneren Anteile
Und jetzt kommt das Besondere der Liebesbeziehung ins Spiel, denn sie hilft uns wie keine andere Beziehung dabei, diese inneren Anteile zu entdecken. Weil die verletzlichen Anteile die einzigen sind, die Nähe und herstellen können, kommen sie dort besonders häufig hinter den machtvollen Spezialisten zum Vorschein. Somit dienen uns diese engen Beziehungen als Lehrer und Heiler und sie führen uns in das eigene innere System.
Wer sich auf den Weg machen möchte und sich selbst kennen lernen will sollte laut Artho Wittemann diese 5 Grundregeln kennen
- Du bist Viele
- Alle sind Spezialisten
- Alle können Ja und Nein sagen
- Die Großen beschützen die Kleinen
- Lerne sie kennen
Dem ist eigentlich nicht viel hinzuzufügen, außer nicht zu vergessen, dass es Spaß machen darf und dass es manchmal externer Hilfe bedarf. Vor allem, wenn sich die Spezialisten untereinander verkeilt haben. Gerne bin ich für euch da, besonders auch dann, wenn euch gerade kein Beziehungspartner als Sparingspartner zur Verfügung steht.