Gruselig waren die letzten Jahre mit dem Sohn im Haus. Er kam und ging wie er wollte, sorgte für einen immer leeren Kühlschrank und sehr viel dreckige Wäsche. Seine Mutter lag nachts wach und konnte erst schlafen, sobald das vertraute Geräusch vom Schlüssel in der Haustür zu hören war. Oft war das erst um 6 Uhr morgens, kurz bevor ihr eigener Wecker klingelte.
Sie dachte, es wird besser, wenn Karl* endlich auszieht und Ruhe im Haus einkehrt. Doch nun ist es viel schlimmer. Petra* macht sich noch mehr Sorgen als früher, denn Karl erzählt kaum etwas von sich.
Er kommt nicht klar
Das einzige, was Petra sicher über ihren Sohn zu wissen glaubt ist, dass Karl im Leben nur schwer klarkommt. Ihrer Meinung nach trinkt er zu viel und das Studium scheint auch nicht gut zu laufen.
Sie fragt sich sogar manchmal, ob ihr Sohn wirklich studiert. Karl erzählt kaum etwas darüber und einen Abschluss hat er auch noch nicht. Jede Frage wird unwirsch oder gar nicht beantwortet. Er meldet sich selten bei seiner Mutter und wenn, dann versucht Petra alles aus ihm heraus zu fragen. Immer mit sorgenvoller Mine und auf der Suche nach einem Hinweis, wie es ihm wirklich geht.
Karl wird dann ziemlich schnell entweder wütend oder schweigt. Das sind für beide schlimme Begegnungen, voller Vorwürfe und anklagendem Schweigen. Danach ist Petra tagelang deprimiert und grübelt, was sie hätte anders machen können oder sollen.
Schlaflose Nächte
Petra schläft immer noch schlecht. Fast jede Nacht liegt sie lange Zeit wach und das Gedankenkarussell dreht wilde Runden.
Immer dreht es sich dabei um ihren Sohn. Ihr Mann, Jörg, versucht dann, sie zu beruhigen. Aber es gelingt ihm nicht. Im Gegenteil, den Nächten folgen dann meist auch noch Tage voller Streit.
Jörg will mittlerweile nichts mehr von Petra’s Ängsten hören, er hält sie für überzogen und so schweigt auch er und zieht sich von Petra zurück.
Petra kommt allein zu mir in die Beratung, weil sie endlich raus will aus diesem Zustand.
Was jetzt?
„Es muss was passieren, Karl ist jetzt 29 Jahre alt und ich fürchte mich vor seiner Zukunft“ sagt Petra weinend.
Was für ein schrecklicher Gedanke, bedeutet er doch in ganzer Konsequenz, dass die eigene Mutter Angst davor hat, dass ihr Kind weiter lebt. Es wird wirklich Zeit genauer hinzuschauen. Zum Glück ist Petra das auch klar. Sie will ihr Kind erwachsen werden lassen, vertrauen zu ihm haben, sich nicht mehr verantwortlich fühlen.
Aber sie hat keine Ahnung, wie das gehen soll.
Erwachsene Kinder loslassen
Kindern das Leben zu schenken ist wirklich ein Geschenk und sollte auch als solches weiter gegeben werden. Es gehört ihnen ganz allein. Sie dürfen damit machen, was sie wollen. Wenn wir denken, ein Recht auf Teilhabe und Information zu haben, ist es wie mit dem ungeliebten Geschenk der Erbtante, das nur dann in den Schrank gestellt wird, wenn diese zu Besuch kommt.
Dann spielen die Kinder den Eltern irgendetwas vor von dem sie glauben, dass es denen gefällt oder etwas womit sie selbst die Begegnung einigermaßen unbeschadet überstehen. Dieses Verhalten ist es, das dann zu angespannten Begegnungen führt. Ganz besonders an Weihnachten oder anderen Familienfeiertagen.
Denn natürlich leiden auch die Kinder darunter, wenn es nicht gelingt, ihnen das Leben als Geschenk zu überlassen. Sie spüren das Misstrauen der Eltern und es wird extrem schwer für sie, wirklich erwachsen zu werden und die Verantwortung ganz zu übernehmen.
Wenn Kinder erwachsen werden
Erwachsen zu werden ist eine Herausforderung. Es lässt sich nicht vermeiden, aber es ist mehr als einfach nur älter zu werden. Erwachsene haben bei jungen Menschen keinen besonders guten Ruf. Sie werden entweder als verantwortungslose oder als freudlose Menschen erlebt.
Es gibt auch wenig Unterstützung, die dabei hilft, den Übergang von einer Lebensphase in die andere zu begleiten.
Von den teilweise brachialen Initiationsriten der Urvölker ist nichts mehr übrig geblieben. Das ist auch gut so, denn nicht jeder Mensch würde diese Rituale überleben. Immerhin wird dadurch klar, dass es bei diesem Übergang um Leben und Tod geht.
Was die Urvölker damals zu wirklich harten Ritualen bewog war kein Sadismus, sondern etwas, das auch heute noch relevant ist. Es ist die Frage danach, ob dieser Mensch aus sich selbst heraus überlebensfähig ist oder nicht. Das mussten die jungen Menschen damals beweisen, indem sie z.B. drei Tage allein im Wald überleben mussten.
Auch wenn niemand diese Rituale zurück haben will, bleibt die Frage, ob der junge erwachsen gewordene Mensch die Verantwortung für das eigene Leben übernehmen kann oder nicht? Ist die Antwort darauf ein Ja, dann läuft es meist mehr oder weniger gut. Krisen können überwunden werden und Entwicklungsschritte gemeistert.
Ist die Antwort ein Nein, kommt es zu falschen Entscheidungen und notwendige Entwicklungsschritte werden vermieden. Oft versuchen dann die Eltern, ihren Kindern diese Schritte irgendwie abzunehmen.
Genauso wie Petra. Sie will etwas für Karl tun, was dieser nur selbst tun kann. Sie will ihm immer noch dabei helfen überlebensfähig zu werden. Da Karl sich zurecht dagegen wehrt, bleibt Petra nur noch die Sorge um das „Kind“. Das hilft aber nicht, ganz im Gegenteil es macht alles schlimmer.
Aber Petra fehlt das Vertrauen in Karl und das schon sehr lange.
Schuldgefühle
Hinter der Sorge um Karl wird Petra von Schuldgefühlen gegenüber ihrem Sohn geplagt. Sie weiß, dass sie vor allem in den ersten Jahren viele Fehler gemacht hat. Karl’s Vater ist früh durch einen Unfall ums Leben gekommen, sodass Petra mit dem Baby allein war. Das hat sie damals total aus der Bahn geworfen.
Sie wollte selbst nicht mehr leben, war vollkommen überfordert und hat sogar eine Zeitlang zu viel getrunken. Damals wäre Karl fast in ein Heim gekommen, weil sie sich nicht gut genug um ihn kümmern konnte. Petra kann sich diese Zeit bis heute nicht verzeihen.
Sie würde ihr eigenes Leben dafür geben, wenn sie das alles ungeschehen machen könnte. Als nach Jahren ein neuer Mann in ihr Leben trat, wurde es für Petra endlich besser. Doch sie denkt, dass es für Karl zu spät war. Sie geht davon aus, dass ihm für immer der nötige Halt fehlen wird. Daran zweifelt Petra keine Sekunde und dafür gibt sie sich ganz allein die Schuld.
Sich selbst verurteilen
Seit ein paar Jahren liest Petra ständig Ratgeber zum Thema Kindererziehung. Vor allem die Bücher über das erste Babyjahr verschlingt sie, obwohl ihr Sohn bereits 29 Jahre alt ist. Es ist eine Art von Masochismus, der sie diese Bücher lesen lässt. Dort findet sie die Bestätigung ihrer Schuld, dort werden alle Fehler, die sie damals gemacht hat sogar wissenschaftlich erläutert.
Jetzt weiß sie, dass Karl völlig lebensunfähig ist und es auch bleiben wird. Die Ratgeber warnen vor Bindungs- und Entwicklungsstörungen. So steht Petra ständig vor ihrer eigenen inneren Anklagebank und wird jedesmal erneut verurteilt. Sie kann das kaum noch aushalten, aber aufhören kann sie auch nicht.
Vor lauter Schuldgefühlen und Horror-Gedanken über die Lebensunfähigkeit des Sohnes verpasst sie all die Begegnungen, die heute mit Karl möglich wären. Petra sieht gar nicht den Menschen, der ihr Sohn geworden ist, sondern sie sieht in ihm nur das eigene Versagen. So kann natürlich niemals eine entspannte Beziehung entstehen.
Die Verantwortung übernehmen
„Ja, Sie sind verantwortlich für Ihr Handeln von damals. Umso dringender ist es jetzt, dass sie die Verantwortung dafür auch übernehmen und eine Lösung suchen.“ sage ich.
Sie schaut mich fragend an „Wie geht das?“
Das ist eine sehr gute Frage. Wer weiß schon wie das geht, wirklich Verantwortung für etwas zu übernehmen, das man sich selbst nicht verzeihen kann? Meist sollen diese Situationen irgendwie ungeschehen oder wieder gut gemacht werden. Da wird geschwiegen, verleugnet, verdrängt und vieles mehr. Es tut einfach zu weh, die Schuldgefühle zu fühlen.
Aber es lohnt sich, die Situation noch einmal genau anzuschauen und sich auf die Suche danach zu machen, was eigentlich dazu geführt hat oder was damals gefehlt hat. Nicht, um es zu entschuldigen, sondern, um daraus zu lernen und vor allem einen Frieden damit zu finden.
Als Petra nach einigen Sitzungen klar wird, was für eine hilflose junge Frau sie damals war, beginnt sie erstmals Mitgefühl mit sich selbst zu haben. Sie sieht wie überfordert und haltlos sie war. Das ist der richtige Weg, um keine Sorge, sondern echtes Mitgefühl mit ihrem Sohn zu entwickeln.
Denn natürlich ist auch Karl in ganz ähnlichen Schuldgefühlen gefangen. Er spürt die Sorge der Mutter und gibt sich selbst die Schuld dafür. Doch mit der Veränderung bei Petra lässt der innere Druck auch in ihm nach. Denn wenn sich eine Person aus dem Familiensystem auf den Weg zu einer Lösung macht, hat das Auswirkungen auf das gesamte System.
Loslassen
In einer weiteren Sitzung beschließt Petra, all diese schrecklichen Erinnerungen und Vorwürfe aufzuschreiben und dann auf dem örtlichen Friedhof zu begraben. Dieses Ritual hilft ihr dabei, aus dem ständigen Gedankenkarussell auszusteigen. Nachdem Sie all die Schuldgefühle, die Scham über ihr Versagen und die Trauer um den Vater von Karl heraus geschrieben hat, legt sie noch ein paar Fotos von sich aus der Zeit dazu und begräbt alles zusammen im Grab von Karl’s Vater.
Fast sofort spürt sie eine deutliche Erleichterung.
Anfangs geht sie an den sorgenvollen Tagen zum Grab ihrer schrecklichen Erinnerungen. Mit der Zeit werden diese Tage immer seltener.
Endlich entspannt sich auch der Kontakt zu Karl deutlich. Sie kann ihm begegnen, ohne sich für die Vergangenheit zu schämen.
Es geht nicht darum, alles gut zu heißen, aber ein Fehler oder auch echte Schuld wird durch Selbstverurteilung und ständige gedankliche Wiederholung nicht besser. Zu lernen, mit den eigenen Fehlern so umzugehen, dass sie auch vorbei sein dürfen, ist echte Lebenskunst. Erst dann kann etwas Gutes aus den schlimmsten Fehlern entstehen.
Petra und Karl kommen später auch einmal gemeinsam zu mir in die Beratung. Sie entwickeln neue Ideen, wie sie in Zukunft den Kontakt gestalten wollen. Dazu gehört, einmal im Jahr ein gemeinsames Wochenende und sie schaffen es sogar, in einem durch mich angeleiteten Zwiegespräch, offen über die eigenen Gefühle zu sprechen.
Und so wächst ganz langsam das Verständnis füreinander, sie können sich gegenseitig so sein lassen, wie sie sind. Ein riesiger Schritt in Richtung tiefer Verbundenheit und Freiheit für die eigene Entwicklung ist getan!
*selbstverständlich sind die Namen und Fallgeschichten verfremdet, so dass keine Rückschlüsse auf reale Personen möglich sind.
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