Offene Beziehung

offene beziehung

Zukunftsweisendes Modell oder einfach nur ein weiterer Versuch?

Das Buch von Nils Terborg habe ich zum Anlass genommen, mal etwas mehr über das Thema offene Beziehung oder Polyamorie nachzudenken. Ein bisschen habe ich das ja schon mit diesem Blogartikel getan und mir war schon darin klar, dass es eine echte gesellschaftliche Zukunftsfrage ist, wie wir mit unserem Trieb und unseren Beziehungen umgehen. Dennoch kenne ich wenige wirklich offene Beziehungen, die sich über Jahre halten.

Ein paar gibt es schon, aber häufig ist doch der eine oder die andere unglücklich in dieser Konstellation. Aber eines ist ganz wichtig, es gibt definitiv kein richtig oder falsch. Es kann für Paare die Erfüllung bedeuten, wenn sie endlich ihre Beziehung auch für „Außengefühle“ öffnen dürfen, andere halten es nicht aus, auch nur darüber nachzudenken und für manche stellt sich diese Frage nie, weil sie sich gegenseitig wirklich genug sind.

Monogamie ist eine Entscheidung

Die wichtigste Frage ist also, ob das Paar monogam leben will oder nicht! Jedes Paar muss sich hier eine ganz individuell stimmige Antwort erarbeiten. Hier können sie nicht unterschiedlicher Meinung bleiben, wenn die Beziehung eine Zukunft haben soll. Und selbst dann muss diese Antwort nicht für immer gültig sein. Kinder verändern manchmal unsere Haltung dazu. Oder wir haben uns das polyamore Leben zuvor ganz anders vorgestellt als es dann in der Realität wirklich ist. 

Bonobo Affen

Immer wieder werden zu diesem Thema die Bonobo Affen herangezogen, sie sind in ihrer DNA angeblich zu 99 % identisch mit unserer und diese Affen haben untereinander ständig sexuellen Kontakt, auch Geschlechter übergreifend und aus vielerlei Gründen. Sollte Monogamie also unserer wahren Natur eigentlich total entgegen laufen? Wenn das so ist, dann ist Monogamie Folter und Sklaverei. Vielleicht haben wir aber auch unsere Natur bezwungen und durch die Kultur der Monogamie sogar an Lebensqualität gewonnen? Wir fühlen uns sicher eingebunden und unterstützen uns gegenseitig bei der Bewältigung des Lebens und der Erziehung der gemeinsamen Kinder.

Vielleicht ist der neue Hype, den die offene Beziehung erfährt auch Ausdruck der sogenannten Generation Beziehungsunfähig? Das würde dann bedeuten, dass sich die polyamor lebenden Menschen einfach nicht entscheiden können, weil das Angebot an möglichen Partnern so groß ist. Und alles auch noch vermeintlich online mit ein paar wenigen Klicks zu haben ist.

Und es gibt auch noch ein uns sehr vertrautes Gefühl, dass vor gegen eine offene Beziehung spricht. Dieses Gefühl ist natürlich die Eifersucht. Sie gehört schon immer zum Menschsein dazu. Wer jedoch in einer offenen Beziehung lebt, denkt er kann sie bezwingen und ist ihr nicht hilflos ausgeliefert. Und das vor allem, ohne den oder die anderen zur Ausschließlichkeit zu zwingen.

Das Familiensystem und die offene Beziehung

Aus systemischer Sicht ist es in dem Zusammenhang gut, sich die Frage zu stellen, wie weit bin ich in das Familiensystem eingegliedert und ein Herausfallen aus der Monogamie käme einem Herausfallen aus der Familie gleich? Davor haben wir oft mehr Angst als es uns bewusst ist, wir wollen immer noch dazu gehören. Vielleicht erfüllen wir mit der größeren Freiheit aber auch einen heimlichen Wunsch z.B. unserer Mutter, die ein starkes Bedürfnis nach mehr Freiheit hatte, es aber nie ausleben konnte. Auch das bedeutet, das wir vom System getrieben.

Ich würde also unbedingt auch einen Blick auf das Familiensystem werfen, denn manchmal geht es nicht um offene Beziehungen sondern darum, dass jemand im System fehlt und wir solange nicht zur Ruhe kommen, bis er dazu geholt werden kann. In einer Aufstellung zeigt sich dann manchmal dass es nicht um mehr als einen Mann oder mehr als eine Frau geht, sondern z.B. um ein früh verlorenes Geschwister. Wenn das in den Blick kommt, ist der Wunsch nach mehreren Liebespartnern plötzlich verschwunden. Das ist bei weitem nicht immer so, aber es kann vorkommen und um das zu klären, lohnt es sich unbedingt genau hinzugucken, sonst bedeutet Polyamorie nicht das was sie sein kann, nämlich Freiheit und Verbundenheit in einer selbstbestimmten Partnerschaft sondern blindes Folgen eines familiären Musters

Die Gesellschaft und die offene Beziehung

Am Ende bleibt es wohl doch bei dem Satz von Tocotronic „Die Idee ist gut aber die Welt ist noch nicht reif“. Es gab ja bereits in den 68er schon den Versuch der freien Liebe, davon ist nicht viel übrig geblieben. Immer wieder fallen wir in alte vertraute Muster zurück.

Die Frage ist doch warum ist das so? Ist Monogamie etwas, das wir von Natur aus immer wieder anstreben, vor allem wenn es um langjährige Beziehungen geht oder ist Monogamie erzwungen und unnatürlich und wir sind lediglich immer noch nicht in der Lage, alte Muster zu durchbrechen und sie sogar zu überwinden?

Im besten Fall steht die Gesellschaft dieser Lebensform misstrauisch gegenüber, im schlimmsten Fall wird sie mit Gewalt unterdrückt und verboten. Ich bin froh, dass wir in einer Gesellschaft leben, die solche Formen des Zusammenlebens möglich macht. Wir haben um die Freiheit der Individuen gekämpft und unsere Gesellschaft ist mittlerweile wirklich toleranter geworden. Es ist ein Glück, dass wir darüber nicht nur nachdenken, sondern wirklich damit herum experimentieren können.

Da ich in Berlin lebe, darf ich auch immer wieder polyamore Beziehungen begleiten. Berlin ist da für Deutschland sicher ein Vorreiter. Aber ich freue mich, dass die offene Beziehung auch in vielen anderen Teilen Deutschlands möglich ist, zeigt dieses Phänomen doch, welchen Grad an Freiheit wir in unserer Gesellschaft  bereits erreicht haben.

Kinder und die offene Beziehung

Die konservativen unter uns kommen auch gerne mit dem Argument, dass die Kinder aber doch leiden, wenn sie nicht in der klassischen Kleinfamilie zusammen leben. Dafür gibt es keine Beweise. In Aufstellungen zeigt sich aber, dass wir wissen sollten wer unser Vater oder unsere Mutter ist, das ist für das Selbstwertgefühl essentiell. Also ist eine künstliche Befruchtung über einen anonymen Spender für das Kind schwieriger zu verarbeiten als das Aufwachsen in einer polyamoren Gemeinschaft, in der klar ist, wer der biologische Vater und die biologische Mutter des Kindes ist.

Es ist auch aus einem anderen Gesichtspunkt bereichernd, denn das Kind erlebt viele verschiedene Menschen sehr nah und es kann sich an der Vielfalt des Menschseins orientieren. Dadurch wird es selbst mehr Möglichkeiten haben, sein Leben zu gestalten. Und die Überforderung der Eltern, die sich vor allem dann einstellt, wenn nur ein oder zwei Erwachsene ständig mit den Kindern zusammen sind, fällt auch weg. Es braucht laut afrikanischem Sprichwort „ein ganzes Dorf um ein Kind groß zu ziehen“, diesem Sprichwort kommt eine polyamore Gemeinschaft auf jeden Fall näher als die klassische Kleinfamilie.

Allerdings glaube ich nicht, dass sich diese Gesellschaftsform in den nächsten Jahrzehnten durchsetzen wird. Stattdessen wird es wohl meistens bei dem eher verzweifelten Ausspruch bleiben, den ich in einer Workshop Ankündigung gelesen habe: „Eine offene Beziehung muss doch funktionieren, ich habe das gelesen!“